Jenseits Validität und Synthese von Studien der Versorgungsforschung, also jenseits der methodischen Ebene, tut sich ein sehr viel grundsätzlicherer Konflikt auf, der die Zukunft dieses Forschungsfeldes enorm beeinflussen und eventuell auch gefährden wird. In gewissem Sinne befindet sich die Versorgungsforschung “zwischen allen Stühlen”: von der biomedizinischen Seite wird sie angegriffen wegen ihrer Skepsis gegenüber linearen Modellen, und vonseiten der Sozialwissenschaften (insbesondere von der System- und Komplexitätstheorie) wegen ihres Versuchs, in dem “Chaos der Komplexität” doch Faktoren zu identifizieren, die in einer wenngleich stufenweisen oder anderweitig alterierten Form isoliert zu untersuchen sind. Beide “Fronten” bergen erhebliches Konfliktpotential, denn wenn selbst eine “Routine- Behandlung” wie die eines Diabetikers ein komplexes Ereignis darstellt (Wilson und Holt 2001), dann ist dies für die im biomedizinischen Modell erzogenen klinischen Forscher eine substantielle Herausforderung, wird doch die Wissensbasis in Frage gestellt: ist Evidence-Based Medicine  nicht nur ein paternalistisches, sondern auch ein reduktionistisches Modell? Und die schon angesprochene “doppelte Komplexität” (Shojania 2013) macht die Sache auch nicht gerade leichter, denn es wird hier postuliert, dass nicht nur der Kontext der Diabetikerbehandlung komplex ist, sondern dass auch die Interventionen wie die Nutzung einer Insulinpumpe oder der Blutzuckerselbstmessung komplexe Vorgänge darstellen. Von der anderen Seite, also vonseiten der Komplexitätstheoretiker, wird der Versorgungsforschung der Vorwurf gemacht, eine falsche Reduktion der Komplexität zu betreiben (zu den Postulaten der Komplexitätstheorie s. nochmals Tableau 5). Es würde nicht ausreichen, nur die Vielzahl der Faktoren und deren Interdependenzen anzuerkennen, und ansonsten so weiterzumachen wie bisher: “genuinely acknowledging and addressing complexity requires more than the simple adoption of an everexpanding number of variables or array of statistical tests”  (Cohn et al. 2013). Im Jahre 2000 hatte in Großbritannien der Medical Research Council sein Memorandum  “Framework for the Development and Evaluation of RCTs for Complex Interventions to Improve Health” veröffentlicht (MRC 2000), das ein Stufenmodell vorschlug, in dem ausgehend von einer theoretical basis über die Modellbildung und explorative Versuche dann doch der randomisierte Versuch den “Höhepunkt” darstellt, gefolgt von intensiven Nach- und follow up-Untersuchungen (s. Abb. 9). Wie auch andere Autoren später, wird also der Konzeptbildung, der Pilotierung und der späteren Implementierung der Ergebnisse eine sehr große Bedeutung eingeräumt (Avorn und Fisher 2010). Die Kritik ebte aber auch dann nicht ab, als das Medical Research Council im Jahr 2008 eine veränderte Version des Framework vorlegte, in der die randomisierte Studie nicht mehr in dieser hervorgehobenen Stellung enthalten war (MRC 2008). Es wurde argumentiert, dass in nicht-linearen, hochgradig interdependenten Systemen es nicht möglich sei, Einzelfaktoren zu isolieren, die getrennt zu beobachten und im klassischen Ansatz des kontrollierten oder sogar randomisierten Versuchs zu untersuchen seien (z.B. Cohn et al. 2013, zusammenfassende Darstellung der Kontroverse s. Mühlhauser et al. 2011). Die Auseinandersetzung hat Parallelen zu derjenigen um die Bedeutung des randomisierten Versuchs bei Interventionen zur Patientensicherheit (Leape et al. 2002, Shojania et al. 2002). In der von Leape (2002) vertretenen Position darf man sich nicht auf zu hochrangige Studienformate beschränken, weil sonst nur dort Studien angefertigt werden würden, wo Faktoren gut isoliert werden können und außerdem genug Geld vorhanden ist (daher Trend zu biomedizinischen Interventionen), die komplexe Normalität würde außen vor bleiben und daher wäre auf lange Sicht kein Erfolg zu erwarten. Die Gegenposition (Shojania et al. 2002) führt eindrucksvolle Beispiele ins Feld, in der augenscheinlich sinnvolle und valide Instrumente im kontrollierten Versuch als gar nicht oder nur beladen mit erheblichen Nebeneffekten wirksam befunden worden waren. Diese Kontroeverse findet sich auch innerhalb der Komplexitätstheorie selbst wieder, z.B. um die bereits oben angeführte Serie im BMJ (Plsek und Greenhalgh 2001, Wilson und Holt 2001, Plsek und Wilson 2001, Fraser und Greenhalgh 2001), deren Autoren isbesondere eine unzulässige Psychologisierung des Attraktoren-Konzeptes vorgeworfen wird (Paley 2010, Greenhalgh et al. 2010, Paley 2011). Es ist nicht zu vermeiden, dass sich die Versorgungsforschung mit diesen Fragen weitergehend auseinandersetzen muss, weil sonst die Möglichkeit besteht, dass dieses Forschungsgebiet diese Auseinandersetzung an zwei Fronten nicht schadlos übersteht. (Weiter: 4. Ausblick)
Home Titel Inhalt Summary Text Lit. Stichwort Org.
Seite
Kapitel
Seite
Kapitel
3. Evaluation 3.2. Evaluation und Komplexität
© Prof. Dr. med. Matthias Schrappe, Venloer Str. 30, D-50672 Köln Impressum
Schrappe, M.: Versorgungsforschung als Methode der Problemdefinition und Evaluation, Version 1.0.0.
Abb. 9: Evaluation komplexer Evaluationen (Campbell et al. 2000), analog zum Modell des Medical Research Council (MRC 2000)
M. Schrappe; Versorgungs- forschung als Methode der Problemdefinition und Evaluation
VF
Tableau 5: Eigenschaften komplexer Systeme ● bestehen aus zahlreichen Teilen ● Zahl der Teile veränderlich ● Teile sind interdependent ● nicht-linear mit multiplem Feedback verbunden ● interne Regeln nicht-explizit ● Ereignisse in Zeit und Stärke nicht vorhersehbar ● Neigung zur Selbstorganisation ● Adaptation an Umwelt und Lernen möglich ● Sensibilität gegenüber Anfangsfehlern ● Akzeptanz von Paradoxon und Unsicherheit ● Orientierung an Zwischen- und Endzuständen    relativer Stabilität (Attraktoren)